Vortrag von Prof. Dr. Benjamin Stora (Paris-13-Universität) - Dienstag, 1. Februar 2011
19 Uhr, Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend ÜBERSETZUNG
Die anschliessende Diskussion wird konsekutiv von Dr. Thomas Lienhard (Leiter des IFHA) und Prof. Dr. Roland Spiller (Leiter des Instituts für Romanische Sprachen und Literaturen) übersetzt.
Eine Zusammenarbeit des Institut français d’histoire en Allemagne und des Instituts für Romanische Sprachen und Literaturen - Forum France Monde Francophone der Goethe-Universität.
Mit Unterstützung des Büros für Zusammenarbeit im Hochschulwesen (Kulturabteilung der französischen Botschaft in Deutschland).
www.institut-francais.fr/frankfurt www.ifha.fr www.uni-frankfurt.de
PROF. DR. BENJAMIN STORA
1950 in Constantine, Algerien geboren, gilt der Professor für Maghrebinische Geschichte am National-Institut für orientalische Zivilisation und Sprachen in Paris (INALCO) und an der Paris-13-Universität als Experte für den französischen Kolonialkrieg gegen Algerien. B. Stora ist Autor und Herausgeber zahlreicher historischer Publikationen (darunter "La Guerre d’Algérie") und autobiographischer Essays. Er realisierte Dokumentarfilme, wie etwa "Algérie, croyances d’une Nation", war ebenfalls Kurator von Ausstellungen zu diesem Thema. Er war wissenschaftlicher Beirat von Filmen wie Indochine von Regis Wargnier (Oscar für den besten ausländischen Film 1993) und Le Premier homme (Gianni Amelio), der z. Zt. gedreht wird. Eine neue Umfrage bei der breiten Öffentlichkeit in Frankreich stellt ihn unter die 20 berühmtesten und einflussreichsten französischen Intellektuellen.
Jüngstes Buch: Algérie 1954-1962, Lettres, carnets et récits des Français et des Algériens, Ver. Les Arènes, 2010
Alle fett gedruckten Wörter verweisen auf die folgende Chronologie oder auf Fußnoten und wurden von den Veranstaltern des Vortrags hinzugefügt.
KLEINE CHRONOLOGIE zum Vortrag
1. November 1954: Gründung des FLN, Front de Libération Nationale, algerische Unabhängigkeitsbewegung. Beginn des Algerienkriegs.
Januar bis Oktober 1957: Schlacht von Algier, militärische Auseinandersetzung zwischen der französischen Armee und dem FLN. Der französische General Massu hat volle Macht, die Attentate des FLN durch Folter und Entfuehrungen zu bekämpfen.
Mai 1958: Putsch französischer Militärs in Algerien gegen die Regierung in Paris. De Gaulle bildet eine neue Regierung.
September 1958: Gründung der V. Republik. De Gaulle wird im Dezember zum Praesidenten gewählt.
April 1961: Putschversuch von vier Generaelen in Algier als Reaktion gegen die Politik De Gaulles und seiner Regierung, die sie als Politik der Aufgabe des franzoesischen Algeriens ansahen.
17. Oktober 1961: Protestkundgebung in Paris durch den FLN initiiert. Französische Polizei und Militär töten bei friedlichen, allerdings durch Ausgangssperre verbotene, Demonstrationen bis zu 200 algerische Menschen, deren Leichen teilweise in die Seine geworfen werden.
8. Februar 1962: Die von der PC und Linksparteien organisierte, verbotene Demonstration in Paris gegen die OAS (französische Untergrundbewegung) und den Algerienkrieg, wird von der Polizei bei der Metrostation Charonne brutal beendet: 9 Tote.
19. März 1962: Verträge von Evian. Waffenstillstand zwischen Frankreich und dem FLN
ÜBERSETZUNG
Aus dem Französischen von Bernd Schwibs
Die Bedeutung des Traumas des algerischen Unabhängigkeitskrieges
In Algerien wird der im November 1954 begonnene und mit der Unabhängigkeit vom Juli 1962 beendete Krieg »Revolution« genannt. Gefeiert wird er als Gründungsakt einer Nation, die ihre Souveränitätsrechte wiedergewonnen hat. Diese so außerordentliche Sequenz – der Prozess der Befreiung von kolonialer Herrschaft – wird als tiefgreifendes Trauma erlebt: massive Zwangsumsiedlung ländlicher Bevölkerungsteile, Folterpraktiken, willkürliche Inhaftierungen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Bei dem auf allgemeine Zustimmung stoßenden Gedenken kommen die internen Unstimmigkeiten des algerischen Nationalismus nicht zur Sprache. Die Algerier sprechen heute von 1,5 Millionen Toten. Diese Zahl wird wiederum von französischen Historikern und Demographen bezweifelt, denen zufolge es unter den moslemischen Algeriern 250 000 bis 500 000 Tote gegeben hat. Eine auf jeden Fall enorme Zahl, die von der Wucht des Zusammenstoßes zeugt.
In Frankreich wird dieser Konflikt »Algerienkrieg« genannt, und zwar seit dem Votum der Nationalversammlung vom Juni 1999, das den Mythen von den »Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung« ein Ende setzte. Dieser Konflikt wird immer noch wie eine schmerzhafte Seite der jüngsten Geschichte gelesen: keine offiziellen Gedenkfeiern anlässlich aussagekräftiger Daten (wie dem 19. März 1962, Moment der Unterzeichnung der Verträge von Evian), wenige bedeutende Spielfilme, keine universitären Forschungs- und Lehrzentren zu diesem Ereignis. Und doch stellt dieser siebenjährige Krieg, der zu seiner Zeit nie seinen wirklichen Namen zu sagen wagte, ein außergewöhnliches Moment in Frankreich dar: Er hat den Zusammenbruch der 4. Republik, den Aufbruch von einer Millionen »pieds-noirs[1]« (den Europäern) und Harkis[2] ins alte koloniale Mutterland, aber auch das Massaker an Tausenden von Harkis und deren Familienangehörigen in Algerien selbst ausgelöst.
Der algerische Unabhängigkeitskrieg stellt, zusammen mit dem von Indochina, den härtesten Entkolonisierungskrieg des 20. Jahrhunderts dar. Wie lässt sich die Schärfe dieses Konflikts erklären? Als der Aufstand am 1. November 1954 ausbricht, heißt es in den Worten von François Mitterrand, dem damaligen Minister im Kabinett von Pierre Mendès France, »Algerien, das ist Frankreich«. Nach französischem Vorbild ist Algerien in drei Departements aufgeteilt und ist somit weitaus mehr als eine ferne Kolonie wie der Senegal oder ein Protektorat wie Tunesien. Nahezu eine Million Europäer arbeiten und leben dort seit Generationen. Nicht alle sind über ihre Ländereien wachende „Großgrundbesitzer“ (colons). Der Lebensstandard der meisten liegt unter dem der Bewohner des französischen Mutterlands. Vertreten wird diese proletarisierte Besiedlungskolonie von den traditionellen – linken wie rechten – großen Parteien Frankreichs, deren Funktionsweise und Konzeptionen am Modell der jakobinischen Zentralisierung ausgerichtet sind. Es scheint von daher außer Frage zu stehen, ein seit 130 Jahren – noch vor Savoyen 1860 – zu Frankreich gehörendes Territorium zu verlassen. Die Entdeckung des Erdöls, die Notwendigkeit der Verwendung der Weite der Sahara für beginnende Atom- und Raumfahrttests bilden weitere Motive, die im Laufe des Krieges noch hinzukommen.
Und so schickt Frankreich seine Soldaten zum Kampf in ein französisches Territorium des »Südens«, das sein Recht auf Abspaltung einfordert. Neun Millionen moslemische Algerier, falsche Bürger einer assimilationistischen Republik, werden den Nachweis der Unabwendbarkeit der Unabhängigkeit erbringen.
Fünfzig Jahre nach Beginn des im November 1954 ausgebrochenen Konflikts verstört dieser Krieg noch immer die Erinnerungen Frankreichs und Algeriens. In Frankreich sind die Debatten und Polemiken zumal im Zusammenhang mit der maghrebinischen Immigration von dieser Periode geprägt: Kann man ganz Franzose und ganz Moslem sein? Weitere Fragen: War Folter zum Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt? Kündigte die algerische Dekolonisierung nicht eine Neudefinition der Beziehungen zwischen dem »Norden« und dem »Süden« an? Hängt der vorhandene Rassismus in Frankreich nicht mit dieser Kolonialgeschichte zusammen? Die Verabschiedung eines Gesetzes in der Nationalversammlung am 23. Februar 2005, in dem die »positiven« Verdienste der Kolonisierung herausgestrichen werden, hat in der universitären Welt, aber auch in Algerien und auf den Antillen eine Welle des Protests ausgelöst. Der Gesetzesartikel wurde im Februar 2006 schließlich wieder gestrichen.
In Algerien hat nach den tragisch verlaufenen städtischen Unruhen vom Oktober 1988 eine zentrale Frage an Stärke gewonnen: Warum wurde der politische Pluralismus im Verlauf dieses Unabhängigkeitskrieges durch den Aufbau einer Einheitspartei getilgt? Und weiter: Muss in dem Gewaltausbruch der 1990er Jahre, bei dem es durch die Konfrontation zwischen dem algerischen Staat und den Islamisten zu nahezu 150 000 Toten kam, nicht ein Überbleibsel der fürchterlichen Machtkämpfe gesehen werden, die während des Unabhängigkeitskrieges den algerischen Nationalismus in Mitleidenschaft zogen?
Auf beiden Seiten des Mittelmeers bleibt die Erinnerung fiebergeschüttelt und traumatisch. Eine schwierige Debatte, in der die zugespitzten Fragen der Verbindung von Geschichte, Moral und Politik zur Sprache kommen.
Ein weltweites Phänomen
Das Phänomen der Rückkehr naher und schmerzhafter Erinnerungen ist gegenwärtig in zahlreichen Ländern zu beobachten. In den Vereinigten Staaten fordern Historiker eine »Wahrheitskommission« zu Verbrechen, die von ihren führenden Politikern in Vietnam und in Lateinamerika verübt wurden; in Japan wird die Haltung des Kaisers Hiro Hito bei der Entscheidung, in China einzufallen oder die USA anzugreifen, von »Neuen Historikern« wie Osamu Watanabe oder Yutaka Oshida schwerwiegend in Frage gestellt. Deutschland bleibt heimgesucht von seiner nationalsozialistischen, stalinistischen und – über die Kritik an zu Ministern aufgestiegenen ehemaligen Linksradikalen – linksradikalen Vergangenheit; Chile erlebt die Wiederkehr des Gespensts der dunklen Jahre der Pinochet-Diktatur; »Neue Historiker« in Israel wie Tom Segev und Avi Shlaim attackieren die Gründungsmythen der israelischen Gesellschaft; und Frankreich sieht sich konfrontiert mit dem Machtmissbrauch und den Ausschreitungen einiger seiner Soldaten während des Algerienkrieges, also Folter, Vergewaltigungen, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. Alle diese tragischen Ereignisse sind in allen Ländern vor dreißig bis vierzig Jahren eingetreten.
Eine Verkürzung der Reflexionszeit, der Latenzperiode erscheint als das neue Element im willentlichen Umgang mit der schmerzhaften Geschichte. Weite Teile der öffentlichen Meinung wollen jetzt wissen, was sich in den 1990er Jahren in Ruanda, Bosnien, Algerien zugetragen hat, wer für die dortigen Massaker verantwortlich ist. Auch Marokko fügt sich aufgrund der näheren Untersuchung der »bleiernen Jahre« der Regentschaft Hassans II. (in den Jahren 1965–1975) diesem Prozess der Nachforschung der Erinnerung an eine nahe oder ferner liegende Vergangenheit ein.[3] Die beschleunigte Informationsverbreitung und das Auftreten von nichtstaatlichen Organisationen lassen auf diese Weise die Globalisierung in einem neuen Licht erscheinen: dem des Verlangens nach Gerechtigkeit, Geschichte, Mitsprache als Staatsbürger. Diese neuen Grundgegebenheiten stellen die modernen Nationen vor Herausforderungen. Das Entstehen einer Mediengesellschaft hat teil an diesem Prozess der Zirkulation erlebter Erfahrungen von dem einen zu dem anderen Ende des Planeten. Doch die Medien beschränken sich nicht nur darauf, die demokratischen Blockaden oder Defizite, die Verbrechen oder Menschenrechtsverletzungen schnellstmöglich zu verbreiten – was bereits signifikante Fortschritte in der Funktionsweise des Rechtsstaats darstellt. Die Bekanntmachung all dieser positiven wie negativen Fakten erzeugt, produziert das Ereignis. Von der Position eines Vermittlers findet sich der Journalist, zuweilen wider Willen, in die Position eines Akteurs versetzt.
Die Wiederkehr der Erinnerung an den Algerienkrieg, den Frankreich erlebt, könnte demnach eine doppelte Ursache haben: die eines weltweiten Phänomens, ausgelöst unter anderem durch eine extraterritoriale Bewegung der nochmaligen Überprüfung der postkolonialen Entgleisungen; aber auch Antwort auf ein lange Zeit unterdrücktes Verlangen innerhalb der Gesellschaft, eines Verlangens, das von einem Teil der Medien getragen wird. Auf diese Weise erscheint dieses Recht auf Wiederauftreten der Erinnerung als unausweichlich. Welchen inszenatorischen Part spielen nun die Medieninstitutionen bei diesem Akt der Wiederkehr der Erinnerung?
Medientätigkeit und das Aufflammen der Erinnerungen im Herbst 2000
Am Samstag, dem 4. November 2000, schließt sich der französische Premierminister Lionel Jospin einem Aufruf von Intellektuellen an, der am 31. Oktober 2000 von der kommunistischen Zeitung L’Humanité veröffentlicht worden war. In diesem Aufruf, der unter anderem von Henri Alleg (dessen Buch La Question[4] zunächst publiziert und dann 1958 verboten worden war) und dem Mathematiker Laurent Schwartz (1957 Gründer des »Komitees Maurice Audin[5]«) unterzeichnet wurde, war zu lesen: »Angesichts seiner Verantwortlichkeiten ist es an Frankreich, die während des Algerienkrieges in seinem Namen ausgeübte Folter zu verurteilen.« Die Unterstützung des Premierministers wird als Ermutigung zu weitergehenden Zeugenschaften und ideologischen Stellungnahmen zu dieser Frage der Folter wahrgenommen. Die Tageszeitung Le Monde ist bei diesem Thema federführend. Bereits am 20. Juni 2000 hatte die Zeitung einen von Florence Beaugé gesammelten Augenzeugenbericht von Louisette Ighilariz, einer aktiven algerischen Freiheitskämpferin, veröffentlicht. Ende 1957 war die damals 20-jährige junge Frau drei Monate lang beim Stab des 10. Fallschirmjägerbataillons von General Massu brutal gefoltert worden. Erneut aus der Feder Florence Beaugés veröffentlicht Le Monde am 9. November 2000 die schreckliche Geschichte einer weiteren jungen Frau, Kheira, die von französischen Soldaten vergewaltigt worden war, am 11. November dann die Berichte von Pierre Alban Thomas, eines Hauptmanns des 2. Büros für Nachrichtendienst, von Georges Fogel und André Brémaud, zwei in Algerien eingesetzten einfachen Wehrpflichtigen. Sie erklären, der Folter zugeschaut zu haben, ohne eingeschritten zu sein, und diese, lange Zeit verschwiegene Erinnerung, hinterlässt in ihnen ein Gefühl von Ekel und Scham.
40 Jahre nach diesen tragischen Geschehnissen löst sich die Zunge und bringt diese schmerzhaften Ereignissen zu Gehör. Eine andere Zunge löst sich ebenfalls: die der Generäle, die an der »Schlacht von Algerien«, bei welcher Folter massiv zum Einsatz kam, teilgenommen hatten. In Le Monde vom 23. November 2000 meldet sich der 92-jährige General Jacques Massu zu Wort und beurteilt den Aufruf der Intellektuellen in der Humanité zugunsten der Anerkennung und Verurteilung der Folter in Algerien durch Frankreich als positiv. »Ich hielte dies für einen Fortschritt«, erklärt er. In derselben Zeitung und am selben Tag äußert sich der 82-jährige General Paul Aussares gegen eine solche Reuebezeugung. Er erläutert, wie er »sich zur Folter entschieden hatte«, und berichtet von den summarischen Hinrichtungen, die er in Algier anordnete. Er bestätigt, eigenhändig 24 algerische »Verdächtige« getötet zu haben. Letzteres Zeugnis hatte ein enormes Echo. Am 24. November scheint der Premierminister einen Rückzieher zu machen, als er der Gründung eines von der Kommunistischen Partei Frankreichs geforderten parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den während des Algerienkrieges begangenen Folterungen seine Zustimmung verweigert. Doch die Debatte ist bereits in Gang: alle politischen Formationen, von rechts wie von links, äußern sich zu dem Thema. Die Idee einer Kommission von Historikern zu diesem Zeitabschnitt taucht auf, das Problem der Archive zum Algerienkrieg ist aufgeworfen, der Inhalt der Schulbücher, die diese Periode behandeln, wird thematisiert und kritisiert[6], eine Doktorarbeit, die sich auf die Entzifferung der Kriegstagebücher der französischen Regimenter während des Algerienkonflikts stützt, kann belegen, dass Folter nicht nur die Sache einiger einzelner Militärs gewesen ist.[7] Wie ist dieses plötzliche Aufflammen der Erinnerung zu erklären? Wie im vorliegenden kurzen Beitrag ersichtlich wird, steht diese Wiederkehr der Erinnerung nicht nur mit einer bestimmten journalistischen Tätigkeit im Zusammenhang, sie steht auch im Einklang mit den Wünschen einer neuen Trägergruppe der Erinnerung an den Algerienkrieg: der Kinder algerischer Immigranten in Frankreich. Zuvor aber sollte man sich vielleicht doch fragen: Gab es denn überhaupt eine Entdeckung der Folterpraktiken während des Algerienkrieges? Nicht wirklich …
Alles wissen und nichts sagen
Nach dem durch den Augenzeugenbericht von Louisette Ighilahri und der »Reuebekundung« General Massus in Le Monde ausgelösten Erschütterung wird Ende 2000 »entdeckt«, dass die französische Armee während des Algerienkrieges die Folter institutionalisiert hatte. Dabei war doch der erste Artikel, der die Folter in Algerien anprangerte, der von Claude Bourdet im France-Observateur, bereits 1951 erschienen. Und 1953 hatte Daniel Guérin in seinem Artikel »Pitié pour le Maghreb« in den Temps modernes ebenfalls schon die Folter angeprangert. In Algerien wurde bereits vor den »Ereignissen« gefoltert. 1953, nach einer Prozesswelle gegen militante nationalistische Vertreter des PPA-MTLD[8], hebt sich der Schleier über den Gebrauch der Folter durch die PRG, die Geheimpolizei in Algerien. Tatsächlich waren diese Praktiken nicht auf Algerien beschränkt, sondern im gesamten Kolonialreich Frankreichs gang und gäbe. In Saigon, im damaligen Indochina, war den Unabhängigkeitskämpfern und militanten Kommunisten die Rue Catina nicht unbekannt: In dieser Straße fanden die Misshandlungen durch die Kolonialpolizei statt. In Frankreich waren bereits Kampagnen gegen die Folter in Indochina und Afrika geführt worden.
Am Vorabend des Algerienkrieges verfolgt die Frage der Folter bereits die politische Klasse und die französischen Intellektuellen, und das ist der Grund, warum die Mobilisierung dagegen so rasch erfolgt. Schon 1955, wenige Monate nach Kriegsbeginn, schreibt Claude Bourdet »Votre Gestapo d’Algérie« im France-Observateur und François Mauriac »La question« im Figaro. Und im Januar 1957 wird der massive Gebrauch der Folter während der »Schlacht von Algier« enthüllt. Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Das Jahr 1957 erlebt die Gründung des von dem Mathematiker Laurent Schwartz geleiteten »Komitees Maurice Audin«. Sein Ziel ist es, die Öffentlichkeit über das Verschwinden eines französischen Mathematikers zu informieren. Die Veröffentlichung eines Essays in Form eines Pamphlets mit dem Titel Contre la torture (Wider die Folter) im September 1957 prägt sich umso nachdrücklicher in die Köpfe ein, als er von einem katholischen Schriftsteller verfasst ist: Pierre-Henri Simon. Weitere wichtige Zeugenschaften erscheinen, die Artikel von Robert Bonnaud[9] oder auch der Bericht eines Wehrpflichtigen, der im Témoignages chrétien veröffentlicht wird. Im Januar 1958 publiziert der von Jérôme Lindon geleitete Verlag Les Éditions de Minuit das Buch La Question von Henri Alleg. Kurz nach seiner Erscheinung verboten, wird das Buch unter dem Ladentisch in nahezu 100 000 Exemplaren verkauft. Ein Schock: Das Werk entlarvt die tagtägliche Praxis des Folterns in ganz Algerien. Auf einmal wird klar, dass die allgemeine Folter nicht nur dazu bestimmt war, die Kämpfer der Kasbah von Algier zu bedrängen. Voller Entrüstung schickt der Schriftsteller und Verleger Maurice Nadeau einen offenen Brief an den Innenminister von General Charles de Gaulle, Michel Debré. Schließlich bildet die Veröffentlichung 1959 eines Kollektivwerks von vier algerischen Autoren, La Gangrène (zu Deutsch: Das Krebsgeschwür), eine dritte Phase in der Geschichte der Bewusstwerdung der Intellektuellen und der öffentlichen Meinung Frankreichs.
Diese Geschichte ist mithin paradox: Vieles ist über die Folter während des Algerienkrieges gesagt worden. Doch kurz nach Ende des Kriegs legt sich ein schwerer Deckel über diese Schreckensgeschichte. Eine bleierne Stille wird über vierzig Jahre herrschen. Ganz rasch, die Verträge von Evian im März 1962 sind kaum geschlossen, wird die Folter irgendwo im Kollektivbewusstsein der Franzosen vergraben. Im Dezember 2000 erzählt ein damaliger Wehrpflichtiger in Le Monde, wie er unlängst in die Bibliothek gegangen war, um den Erlebnisbericht wieder zu lesen, den er 1959 geschrieben hatte. Er hatte schlicht vergessen, was er erlebt und geschrieben hatte …
Niemand ist verantwortlich, niemand hat Schuld
Am Ende des Algerienkriegs ist die Debatte mithin abgeschlossen.[10] Vierzig Jahre lang ist die einstige Anwendung der Folter kein Thema mehr, ebenso wenig wie die Scheußlichkeiten, die während dieses acht Jahre dauernden Kriegs begangen wurden. Dass die Verantwortlichkeit der unterschiedlichen französischen Akteure des Algerienkriegs so lange verdrängt wurde, hat mehrere Gründe:[11]
Zunächst einmal haben die Franzosen Schuld noch nie als zentralen Bestandteil ihrer Geschichte in Betracht gezogen. Ist Frankreich nicht das Land, das der Welt im Allgemeinen und seinen Kolonien im Besonderen die Menschenrechte gegeben hat? Die durch die Französische Revolution geförderte Universalisierung der Menschen- und der Bürgerrechte, auf die sich lange Zeit berufen wurde, hat mit dazu beigetragen, diese Tatsache zu verschleiern: Die Grundsätze der Republik (wie »ein Mensch, eine Stimme«) wurden in den Kolonien nicht angewendet. Doch um zu begreifen, was sich beim Aufbau der Verneinung der schrecklichen Realitäten zugetragen hat, muss der Blick auf die verschiedenen Trägergruppen der Erinnerung an den Algerienkrieg gerichtet werden. Deren Argumente gilt es anzuhören.
In einer Vielzahl von Texten (Autobiographien, Erlebnisberichten, Briefen, privaten Tagebüchern …) beteuern die Soldaten, nur den Befehlen ihrer Offiziere gehorcht zu haben, in ein Räderwerk geraten zu sein. Ihre Offiziere wiederum sagen, von den Politikern geschickt worden zu sein. Dafür, wie die »Angelegenheiten« gelaufen sind, nehmen sie keine Verantwortung auf sich. Diese Militärangehörigen »vergessen«, dass sie tatsächlich die (polizeiliche und gerichtliche) politische Macht in Algerien ausgeübt haben, während und nach der »Schlacht von Algier« 1957 (und sie erst wirklich nach dem gescheiterten Putsch vom April 1961 aufgeben).
Die politische Macht nimmt nichts auf sich, schreibt vielmehr ihre Geschichte um. Die Linke »vergisst« ihr Votum für die Sondervollmachten von 1956, aufgrund dessen die Wehrpflichtigen nach Algerien geschickt werden. Sie konstruiert sich eine Vergangenheit als Widerständlerin gegen den Krieg, indem sie z. B. die Toten in der Metrostation Charonne vom Februar 1962 glorifiziert. Nun konnten die Politiker der politischen Linken gar nicht über den massiven Gebrauch der Folter nicht im Bilde sein. Parlamentarische Delegationen, die dort weilten, kamen mit niederschmetternden Berichten zurück. Nach der »Schlacht von Algier« hat ein General, Paris de Boallardière, darum gebeten, von seinen Funktionen entbunden zu werden. Der Generalsekretär der Polizei von Algier, Paul Teitgen, ist im September 1957 von seinem Posten zurückgetreten. Offensichtlich haben die Minister der IV. Republik Praktiken gedeckt, die sie kannten. Zahlreiche Politiker der Rechten wie der Linken waren der Ansicht, Folter sei ein notwendiges Übel, kolonialen Konflikten inhärent. Sie alle brachten den damaligen militärischen »Theoretikern« wie dem Oberst Trinquier größte Aufmerksamkeit entgegen. Für diese stellte die kriegerische Auseinandersetzung in Algerien einen neuen Konflikttyp dar. In diesem »modernen« Krieg geht der Feind in der Bevölkerung auf. Um ihn aufzuscheuchen, wird die Folter zu einem Instrument im Waffenarsenal des zu liefernden Kampfes: Dem Terror des unsichtbaren Gegners muss zwingend ein anderer Terror entgegengesetzt werden.[12] In diesem Kontext decken die politischen Entscheidungen lediglich eine Reihe von Maßnahmen, die bereits bestand. Einen bereits in Gang gekommenen Prozess zu akzeptieren, ihm nichts in den Weg zu stellen, sich ihm anzuschmiegen, ist ein Leichtes. Die Folter setzt sich von den Kommissariaten fort ins Dorf, vom Dorf in die Stadt Algier, von Algier ins gesamte Land Algerien. Der Politiker toleriert dieses Krebsgeschwür mehr als dass er es anordnet.
Hinzu kommt, dass die meisten Politiker der Zeit sich über die Forderungen der moslemischen Algerier ein falsches Bild machen. Wie die überwiegende Mehrheit der damaligen Sozialisten kommt z. B. Guy Mollet die Eventualität einer Trennung zwischen Frankreich und Algerien überhaupt nicht in den Sinn. Ein Aufstand könne lediglich das Werk einiger von Kairo oder Moskau angestachelter »Fanatiker« sein. Entsprechend müssen sie minimiert werden. Koste es, was es wolle. Das gute Gewissen hinsichtlich der Kolonisierung ist völlig intakt. Es wird auch die Folter rechtfertigen, zumindest für eine bestimmte Zeit. Denn sechs Monate nach der Schlacht von Algier bricht die Republik in sich zusammen. Die massive Anwendung der Folter hat eine tiefgreifende moralische Krise ausgelöst, insbesondere bei den Linken. Diese Krise gehört zweifelsohne zu den Faktoren des Zusammenbruchs der IV. Republik.
Die Rechte wiederum verschanzt sich hinter dem Willen De Gaulles, den Weg hin zur Unabhängigkeit zu beschreiten, wobei sie alle Spuren zutiefst prokolonialistischer Einstellungen verwischt und alle Meinungsverschiedenheiten und Entzweiungen anlässlich der Frage eines französischen Algeriens verschleiert.
Was die Europäer Algeriens anbelangt, die »pieds-noirs«, so löscht der Schmerz über die Niederlage und das Exil jedes Verantwortlichkeitsgefühl aus. Die algerischen Freiheitskämpfer beschuldigen sie des Terrors und der Gräueltaten (und unterschlagen dabei ihren Anteil an Verantwortung für die Geschehen), die französische politische Macht aber vor allem, sie im Stich gelassen zu haben. Das Leiden am Exil verschließt sie jeden Mitgefühls den Algeriern gegenüber. Sie nun waren die Bewahrer der »Nostalg(er)ie«, sie haben mehrheitlich das Gedächtnis an Algerien aufrechterhalten, jahrzehntelang, von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre, mittels Büchern, Filmen, Verbänden. Auch die Harkis und deren Kinder sprechen von »Im Stich gelassen« und »Verrat«, um den Mechanismen einer möglichen Verantwortlichkeit nicht ins Auge schauen zu müssen. Schließlich sei noch hinzugefügt, dass die Folter für viele Franzosen als eine im Grund normale Reaktion auf die von den algerischen Nationalisten begangenen Ausschreitungen und Misshandlungen erschien. Das Argument des auf die gleiche Stufe gestellten »beiderseitigen Terrors« hat lange dazu gedient, sich einer luziden Untersuchung der Gründe der Tragödie (die Kolonialsituation) zu verweigern.
Die Algerier schließlich haben die Existenz ihrer modernen Nation lange Zeit unter Verweis auf diese Phase des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich legitimiert und sich allen Argumenten der Gegenseite verschlossen. Kurzum, keine der zentralen Gruppen dieser Kriegserinnerung erkennt sich irgendeine Verantwortlichkeit für diese zum Drama führenden Verkettung von Ereignissen zu, keine sieht ihr eigenes Verhalten in dieser Konfliktsituation als verwerflich an, keine zeigt Reue oder macht sich selbst Vorwürfe. Erleichterung durch ein unwahrscheinliches Eingeständnis kann es hier also nicht geben.
Die Voraussetzungen einer Wiederkehr
Die brutale Wiederkehr dieser lange Jahre verschleierten und nicht auf sich genommenen Erinnerung lässt sich durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren erklären. Eine wesentliche Rolle spielt dabei zunächst der Generationenprozess. An ihrem Lebensabend verspürt die algerische Aktivistin Louisette Ighilariz das Verlangen, diejenige wiederzufinden, durch die sie gerettet wurde, und der alte General Jacques Massu den Wunsch, sich zu entschuldigen. Ein Schuldgefühl bricht sich Bahn, das endlich zu einem Prozess der neuerlichen Prüfung dieser nahen Vergangenheit zu führen vermag. Die neue Generation wiederum giert nach ihrer Vergangenheit. Mit der Krise der Ideologien wendet sie sich der Vergangenheit zu, um dort neue Bezugspunkte zu finden. Und die neue Geschichtsschreibung erwächst aus der Erzählung der Opfer und nicht mehr aus dem selbstlegitimierenden Diskurs des Staates. In diesem Kontext entwickelt sich ein Prozess der Justizialisierung der Geschichte – das bekannte »Pinochet-Syndrom«. Der Papon-Prozess im Oktober 1998 hat dazu beigetragen, dass der Algerienkrieg ins Register der »Überprüfungen« der Geschichte eingetreten ist. Papon war 1942 Generalsekretär der Präfektur in Bordeaux, 1958 Präfekt der Provinz Constantine und schließlich Pariser Polizeipräfekt zum Zeitpunkt der schrecklichen polizeilichen Ausschreitungen und Übergriffe vom 17. Oktober 1961 …
Das Ende einer Latenzzeit ist eine weitere Erklärung. Es bedurfte vierzig Jahre, um das Drama der Vichy-Regierung anzuerkennen, vierzig Jahre erweisen sich also als notwendig, um sich dem Algerienkrieg zu stellen und Gefühle wie Scham und Schuld aufkommen zu lassen. Am Ende wird diese Latenzzeit die drei Facetten des Algerienkonflikts offenbart haben: einen algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich, einen innerfranzösischen Bürgerkrieg um die Konzeption von Nation und die Trennung von seinem Kolonialreich, und einen inneralgerischen Krieg um die Kontrolle der Zivilbevölkerung.[13]
Die Öffnung der zumal militärischen Archive spielt in diesem neuen Willen nach Wissen und Erkenntnis eine bedeutsame Rolle. An die Stelle der Journalisten, die wie Yves Courrière, Jean Lacouture und Jean Daniel die Erinnerung an den Algerienkrieg bis dahin »getragen« hatten, treten nun universitäre Forscher. Die monumentale Arbeit der Klassifizierung, Darstellung und Organisation der Militärarchive durch Jean-Charles Jauffret belegt die Investition in eine historische Arbeit, die sich nicht mehr mit den Erlebnisberichten von Akteuren oder der Durchsicht der Presseorgane der Epoche begnügt.
Die Tragödie der gegenwärtigen Situation Algeriens (der in den 90er Jahres des vorigen Jahrhunderts begonnene Bürgerkrieg hat mehr als 100 000 Menschen das Leben gekostet), lässt Erinnerungen an den »ersten« Krieg lebendig werden. Zur gleichen Zeit hat sich Algerien der Einheitspartei entledigt. Das Ende des FLN befreit die Erinnerungen. Frankreich kann sich nicht mehr auf den Totalitarismus bestimmter Zirkel des FLN zentrieren, um damit den Blick von den Brutalitäten abzuwenden, die von seiner eigenen Armee begangen wurden. Auch das Ende des Antikommunismus spielt eine Rolle: Lange Zeit über hat der Antikommunismus ermöglicht, sich Schuldgefühlen gegenüber den Kolonisierten zu entziehen. Seit dem Fall der Berliner Mauer können der Westen und Frankreich nicht mehr die Gewissensprüfung hinsichtlich des Kolonialismus abwenden.
Auf politischer Ebene geschehen schließlich zwei Dinge: Im Juni 1999 erkennt die französische Nationalversammlung endlich den »Algerienkrieg« an und im Juli 1999 rehabilitiert der algerische Präsident Bouteflika die Gründerväter des algerischen Nationalismus, Messali Hadj und Ferhat Abbas.
Algerien, 5. Juli 1999: Die Rückkehr der »verfemten Väter«
Auf Seiten Algeriens ist die Rückkehr in die Öffentlichkeit von Figuren des Nationalismus, die lange Zeit abgeschattet waren, höchst aussagekräftig.
Jahrzehntelang wurde die Geschichte in Algerien zur Rechtfertigung der politischen Ausrichtung des Regimes benutzt. Nach 1962 entwickelt sich eine offizielle Geschichtsschreibung, die ganze Sequenzen des Unabhängigkeitskrieges ausblendet (die tragischen Konfrontationen zwischen dem FLN und den Messalisten (d.h. den Anhängern Messali Hadjs), die entscheidende Rolle der Fédération de France des FLN, die Ausbootung der »Berber-Bewegung« und Kommunisten im Widerstand, das Engagement der Frauen im nationalistischen Kampf usw.). In jener Geschichte sind die Namen der Hauptakteure des Krieges ausgelöscht. Bis in die 1990er Jahre erwächst der spezifische Modus des Gedenkens der Notwendigkeit, sich Wurzeln und Ursprünge auszudenken, mit denen die Gründerväter des Nationalismus der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, dann die Anführer der antikolonialistischen Erhebung vom November 1954 vertuscht werden. Vielleicht war dieser Mord an den Vätern des Nationalismus (Messali Hadj, Ferhat Abbas[14]), dann den Vätern der Revolution (z.B. Mohamed Khider und Mohamed Boudiaf) für den Übergang zum bewaffneten Kampf, dann zur Unabhängigkeit notwendig. Doch nachdem all dies vollzogene Tatsachen waren, stand die Gesellschaft in Gefahr, in eine mörderische Anarchie zu verfallen, sollte es nicht zu einer Wiederversöhnung mit den »Imagines« dieser Väter kommen. Und dies war lange Zeit in Algerien nicht der Fall.
Der Oktober 1988, als die städtischen Unruhen ausbrachen, die das algerische Regime von Grund auf erschütterten, kann als grundlegendes Datum für das Schreiben einer anderen Geschichte gelten. Dieses Datum bildet in der postkolonialen Geschichte Algeriens einen Bruch insofern, als es das Ende der von der Einheitspartei, dem FLN, der seit 1962 die Macht innehatte, skandierten Einheitserzählung populistischen Typs kennzeichnet. Auf die optimistischen und siegesgewissen Zeiten der vom langwährenden Moment des Kolonialismus getrennten Errichtung der Nation wird von diesem Augenblick an eine Periode der Zweifel und des Infragestellens folgen. 1992 wird durch den Abbruch des Wahlprozesses eine Serie von Fragen nach den Missverständnissen hinsichtlich seiner Identität eröffnet, die dieses Land durchziehen.
Gegenwärtig verliert der Staat fortschreitend die Kontrolle über das Monopol auf das Schreiben der Geschichte. Die algerische Presse berichtet über Kolloquien zu »wiedergefundenen« Persönlichkeiten des auf Unabhängigkeit drängenden Nationalismus. Am 5. Juli 1999 verkündet der neue algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, dass die algerischen Flughäfen die Namen berühmter Personen tragen werden – die allerdings lange Zeit aus den offiziellen Geschichten verbannt, die »verfemt« waren. Der Flughafen von Tlemcen erhält den Namen von Messali Hadj, der dort geboren wurde. Der Flughafen von Béjaïa (ehemals Bougie) trägt fortan den Namen von Abane Ramdane, dem Einiger des algerischen Widerstands während des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich, der dann im Dezember 1957 von seinen Genossen des FLN ermordet wird. Nach Krim Belkacem, dem historischen Führer des algerischen Nationalismus in der Kabylei, dann ab 1958 einer der leitenden Figuren des GPRA (der Provisorischen Regierung der Republik Algerien), wird der Flughafen von Hassi Messaoud benannt. Krim Belkacem wurde 1970 in Deutschland ermordet, als er sich der Politik des damaligen algerischen Präsidenten Houari Boumediene entgegenstellte. Der Flughafen von Biskra erhält den Namen einer weiteren wichtigen Person, nämlich den von Mohamed Khider, des unbeugsamen militärischen Kopfes des FLN, der im Oktober 1956 von französischen Truppen gefangengenommen und im Januar 1967 in Madrid ermordet wurde.
Die Wiederkehr dieser leitenden Figuren, die alle Opfer von inneralgerischer Gewalt wurden, zeugt vom unzerstörbaren Charakter bestimmter Realitäten des algerischen Unabhängigkeitskampfes: seiner weiter zurückliegenden sozialistischen und arabisch-moslemischen Ursprünge (mit Messali Hadj); seiner gemischten und kabylischen Aspekte mit der Person von Krim Belkacem; seiner Zurückweisungen der Vorherrschaft des Militärischen über das Politische, wie es der von Abane Ramdane eröffnete (und verlorene) Kampf bezeugt. Allerdings ereignet sich diese »Wiederkehr« an Orten, die es »näher zu betrachten« gilt. Diese von der algerischen Macht ausgewählten Örtlichkeiten sind Räume der Kommunikation, der Modernität, der raschen Zirkulationen und der Bewegungen. Es sind auch Grenz-Orte, Zwischen-Räume, Niemandsland gleichsam, wo man sicherlich ankommt, aber auch bereit sein muss, (wieder) abzureisen. Werden die „verfemten“ Figuren der zeitgenössischen algerischen Geschichte an Flughäfen nicht am Saum, am Rand der Nation deponiert? Doch das wesentliche Interesse am Werdegang der »berühmten« Personen, die für eine bestimmte Zeit aus dem Gedächtnis ausradiert waren, erklärt sich aus dem Bedürfnis nach Stütze und Halt, um der Hegemonie der Ideologien, die seit langem die intellektuelle Szene in Algerien beherrschen, entgegentreten zu können. Die Wiederkehr »verfemter« Figuren auf der öffentlichen Bühne bringt heute zum Ausdruck, was sich anderswo nur schwer äußern kann. Die Nachfrage nach Biographien ist eine Antwort auf den Mangel an Sinn, den eine offizielle, häufig anonyme und eintönige Geschichte kennzeichnet. Die wiederkehrenden Erzählungen beschreiben die außergewöhnlichen Lebenswege von Menschen, die, von den Vorurteilen ihrer Zeit befreit, Träger unerhörter Ambitionen für ihr Land waren und entschlossen, selbsttätig ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Diese Lebenswege von Staatsbürgern rufen die neuen Generationen auf, die Welt in all ihrer Tragik und Überschwänglichkeit ernst zu nehmen.
Die schwierige Arbeit an der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Versöhnung
Im Oktober 2000 kommt dem Premierminister Lionel Jospin der Verdienst zu, die Büchse der Pandora geöffnet zu haben, als er erklärt, die Arbeit an der Wahrheit über den Algerienkrieg sei notwendig. Er hat nicht mehr gesagt, und dies war bereits enorm. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick darauf, wie der politische Diskurs sich um diese Frage herum organisiert. Es ist nicht sicher, dass der Premierminister sich der Folgen dessen bewusst war, was er da gesagt hatte, was erklären würde, warum er später vorsichtiger manövrierte. Denn die Geschichte des Algerienkriegs betrifft nahezu 6 bis 7 Millionen Männer und Frauen persönlich: die französischen Soldaten und deren Kinder, die »pieds-noirs« und deren Kinder, die Harkis, die Juden Algeriens, die algerischen Moslems und deren (in Frankreich geborene) Kinder (die »beurs«). Für all diese ist die heimliche Blessur, die Beziehung zum algerischen Boden, noch immer spürbar. Alle diese Erinnerungen sind noch voneinander abgekapselt und treffen nur selten aufeinander. Und sobald die Büchse geöffnet wird, kommt es zum Kampf untereinander. Diese partikularen Erinnerungen haben kein Mitgefühl füreinander. Wie sollte es auch anders sein: Millionen von Menschen haben das Gefühl, das Grab ihrer Väter, ihrer Vorfahren verlassen zu haben. Ihr Algerien ist zu einem Phantasma geworden. Dies umso mehr, als ihr Land unerreichbar bleibt. Man kann nach Marokko oder Tunesien reisen, Algerien aber bleibt verboten. Wie soll man unter solchen Bedingungen Trauerarbeit begehen? Gerade dieser Aspekt scheint von der aktuellen politischen Klasse nicht richtig eingeschätzt zu werden, wenn sie das Thema anschneidet. Vierzig Jahre sind vergangen, und man fragt sich immer noch, wie man die Geschichte dieser Periode angehen soll, ungeachtet der 3000 Bücher in französischer Sprache, 35 Filme und Hunderter von Verbänden und Vereinigungen, die sich um die Erinnerung an Algerien und den Krieg dort drehen.
Der Mangel an Begeisterung seitens der algerischen Autoritäten angesichts des Bedauerns französischer Generäle zeigt die Schwierigkeit der Arbeit an der Wahrheit. Präsident Bouteflika hat Messali Hadj rehabilitiert: ein in der Tat wichtiger Akt. Aber das heißt nicht, dass er sich eine kritische Rückwendung auf die Gründungsmythen des algerischen Nationalismus wünschte. Wenn man sich nun über die algerische Seite des Kriegs beugte, was würde man da wohl ausgraben? Einen Bruderkrieg innerhalb der Algerischen Nationalen Bewegung zwischen den Anhängern Messali Hadjs und dem FLN, eine beispiellose Grausamkeit, an deren Ende das Massaker von Melouza im Mai 1957 stand, bei dem mehr als 374 Dorfbewohner ihr Leben ließen. Dieser Aspekt ist schwer zu akzeptieren. Der Unabhängigkeitskrieg hat tatsächlich die Gründungsväter des algerischen Nationalismus, Ferhat Abbas und Messali Hadj, isoliert. Und am Ende des Krieges werden die neuen Führer der Unabhängigkeit, Hocine Aït Ahmed, Mohammed Boudiaf und Ahmed Ben Bella, ihrerseits kaltgestellt.
Anfang 2001 ist die öffentliche Meinung in Frankreich gespalten. Während einige es für wünschenswert erachten, man stellte die Folterer des Algerienkriegs vor ein Gericht, sind andere gegen eine juristische Lösung und argumentieren, es sei besser zu versuchen, unter diesen Erinnerungskriegen einen Schlussstrich zu ziehen, als sie immer wieder neu zu entfachen. In diesem Sinne beginnt sich allmählich die Idee der Gründung einer »Wahrheits- und Aussöhnungskommission« durchzusetzen, gebildet aus Juristen, Kirchenleuten, Politikern und Historikern, damit die Erinnerung zwischen den verschiedenen Gruppen zirkuliert. Allerdings muss der Staat dabei Verantwortung übernehmen, es kann nicht Sache der Historiker sein, über die Gründung einer solchen Kommission zu entscheiden.
Diese Idee einer »Aussöhnung« zerplatzt zwischen 2004 und 2005. Die Gruppen, die nostalgisch einem verschwundenen französischen Algerien anhängen, üben Druck aus, um jeden Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Algerien zu verbieten (dieser Vertrag sollte im Juni 2005 geschlossen werden und ist gegenwärtig aufgeschoben). Diese vor allem in Südfrankreich sehr aktiven Gruppen widmen sich dem Bau von Museen, in denen die Vorzüge der französischen Präsenz in Algerien gerühmt werden, weihen Straßen und Denkmäler in Erinnerung an Aktivisten der OAS[15] ein (jener gewalttätigen Gruppen, die 1961 und 1962 mit allen Mitteln versucht haben zu verhindern, dass Algerien zu seiner Unabhängigkeit gelangt), fordern die inhaltliche Revision der Schulbücher in ihrem Sinne. Durch Abgeordnete, die ihrer Sache günstig gegenüberstehen, lassen sie das Gesetz vom 25. Februar 2005 verabschieden, das »die positiven Aspekte der französischen Präsenz in Übersee« proklamiert und mit dem die ehemaligen Mitglieder der OAS entschädigt werden sollen … Dagegen protestieren sofort alle linken Vereinigungen, darunter die Liga für Menschenrechte, die in einer Verlautbarung erklärt: »Dieses Gesetz ist eine Kampfansage an die Realität der Fakten, an die Freiheit der Historiker und an alle Opfer der Kolonialkonflikte. Es erwähnt als Opfer und erkennt als gedenkwürdig an ausschließlich die französischen Soldaten und die Vermissten und zivilen Opfer des algerischen Aufstands. Verdienen nicht alle Leiden dieses Krieges unsere Anerkennung? Haben nicht auch jene Algerier unter den Opfern gezählt, die für die Unabhängigkeit ihres Landes eingetreten sind, sowie zahlreiche algerische Zivilisten, die verdächtigt waren, sie zu unterstützen? Haben sie nicht auf Betreiben eines Teils der Behörden der Republik vom Weltgewissen verurteilte Verbrechen erleiden müssen? Im Hinblick auf die Harkis erkennt dieses Gesetz weder an, dass sie nach dem Waffenstillstand vom März 1962 in Stich gelassen wurden und Verbrechen erleiden mussten, noch die Art und Weise, wie sie und ihre Familien jahrzehntelang in reiner Kolonialtradition in Frankreich isoliert und diskriminiert wurden.«
Die Algerier geben in der Presse eine Erklärung nach der der anderen gegen die Wiederkehr des »Neo-Kolonialismus« in Frankreich ab. Am 1. November 2005 schreibt die Tageszeitung Liberté: »Die Leidenschaften brechen aus. Die Erinnerung erbricht ihre Kadaver. Der Krieg von 54 bis 62 ist zu Ende und bringt damit 132 Jahre kolonialer Galeere zum Abschluss, und dennoch scheint das (blutige) Match zwischen Frankreich und Algerien sich bis in eine nie ganz untergehende Zeit endlos zu verlängern. Die Aktualitäten sind abgeschlossen, aber der Film der Erinnerung läuft immer weiter, tagtäglich Massengräber, Leichen und andere Wahrheiten eitrigen Beigeschmacks mit sich führend. Wirklich, die Geschichte ist eine Zeitbombe. Eine nachträgliche Zermalmerin. Mehr als eine Maschine, die in eine frühere Zeit versetzt, ist sie eine Maschine, die die Toten erweckt und die Leichen aus dem Keller zutage fördert (wie jene des 17. Dezember 1961, Opfer eines makabren ›In-Seine-Schmeißens‹), eine rückwärtsgehende Maschine, die mit unseren sichersten Gewissheiten und unseren nobelsten Daten spielt.«
Neue Generationen
Trotz aller Schwierigkeiten wird mit dem Auftreten einer neuen Generation in Frankreich das heile gute Gewissen hinsichtlich der Folterpraktiken und gewalttätigen Übergriffe während des Algerienkriegs erschüttert. Die Jungen wollen nicht mehr mit dieser Leiche im Keller der jüngsten Geschichte leben, sind für die immergleiche Platte des Ressentiments nicht empfänglich. Sie wollen fortan in einem mit seiner Erinnerung ausgesöhnten Frankreich leben und sagen: »fünfzig Jahre danach, der Algerienkrieg ist zu Ende!« Es ist notwendig, ihn zu verstehen, um ihn in der Gegenwart nicht nochmals aufzuführen. Diese Forderung besteht auch auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Algerien.
Benjamin Stora
[1] Als pieds-noir („Schwarzfüße“) bezeichnet man seit den 1950er Jahren Algerienfranzosen, europäische Siedler in Algerien (d.h. Malteser, Italiener, Spanier, Stammfranzosen) sowie die Juden Algeriens, die die französische Staatsangehörigkeit im 19. Jahrhundert erhalten hatten. (Anmerkung des Veranstalters)
[2] Gehilfe der französischen Armee, der während des Algerienkriegs diente. (Anmerkung des Veranstalters)
[3] Zu Marokko siehe meinen Artikel in der Zeitschrift Esprit, August–September 2000; die Ausgabe war den »Historikern und der Erinnerungsarbeit« gewidmet.
[4] Art von Folter im Frankreich der frühen Neuzeit. (Anmerkung des Veranstalters)
[5] Maurice Audin: Mathematiker, kommunistischer und antikolonialistischer Militant, der 1957 von der franz. Armee „verschwunden“ gelassen wurde. Sein Körper wurde nie gefunden. (Anmerkung des Veranstalters)
[6] Zu diesem Thema siehe den Artikel von Maurice T. Maschino in Le Monde diplomatique vom Februar 2001: »L’histoire expurgée de la guerre d’Algérie«.
[7] Diese Doktorarbeit von Raphaëlle Branche, unter der Leitung von Jean-François Sirinelli verfasst, »L’armée et la torture pendant la guerre d’Algérie. Les soldats, leurs chefs et les violences légales«, wurde am 5. Dezember 2000 verteidigt.
[8] PPA (Parti populaire algérien) / MTLD (Mouvement pour le triomphe des libertés démocratique : erste nationalistische Parteien (Anmerkung des Veranstalters)
[9] Siehe von Robert Bonnaud das erste Kapitel, »Des djébels au refus, un refus, un itinéraire«, seines Buches La cause du sud, Paris: L’Harmattan, 2001, S. 11–70.
[10] Siehe den Artikel von Bruno Etienne, »Amnésie, amnistie, anamnèse, amère Algérie. Dire la violence«, Mots, les langages du politique, 57, Dezember 1998.
[11] Zu den Voraussetzungen dieser Verdrängung verweise ich auch mein 1991 erschienenes Werk La gangrène et l’oubli, Paris: La Découverte.
[12] Zu den Doktrinen des konterrevolutionären Kriegs, siehe die Werke von Roger Trinquier, La guerre moderne, Paris: La Table Ronde, 1961, von Paul Alain Léger, Aux carrefours de la guerre, Paris: Albin Michel, 1983, sowie von Antoine Argoud, La décadence, l’imposture et la tragédie, Paris: Fayard, 1974.
[13] Zu diesem Aspekt siehe die Arbeiten Mohammed Harbis, insbesondere Le FLN, mirage et réalité, Paris: Eds. Jeune Afrique, 1980.
[14] Zu diesen beiden wichtigen Figuren des algerischen Nationalismus verweise ich auf meine zwei Biographien, Messali Hadj, Paris: l’Harmattan, 1986, und Algier: Rahma, 1991; sowie Ferhat Abbas, in Zusammenarbeit mit Zakia Daoud, Paris: Ed Denoël, 1995, und Algier: Eds. Casbah, 1997.
[15] Organisation armée secrète (OAS) : französische Untergrundbewegung während der Endphase des Algerienkriegs, die den Verbleib Algeriens bei Frankreich mit militärischen Mitteln erzwingen wollte. (Notiz des Veranstalters)